Der scheinbar einzige Antrieb bei der Entwicklung neuer Produkte besonders im elektronischen Bereich, scheint das laufende Hinzufügen neuer Features zu sein. Es mag beinahe verwundern, dass das iPhone nicht auch als Rasierapparat taugt – wobei Apple als einer der ganze wenigen Hersteller wenigstens bemüht ist, die Funktionsvielfalt auch für möglichst viele Anwender nutzbar zu halten.
Als viel problematischer sehe ich da unsere mittlerweile beinahe durchweg digitalisierten Gestaltungswerkzeuge. Ob Bild, Ton oder Text: Alles wird per Software er- und verarbeitet. Und diese Umstellung hat zweifelsohne zahlreiche Vorteile mit sich gebracht. Abgesehen von den erweiterten Gestaltungsmöglichkeiten gibt es so praktische Dinge wie “Speichern” und “Rückgängig machen” (aka “Undo”). Vertippe ich mich, muss ich nicht das Blatt wegwerfen und vorn vorne beginnen – das ist durchaus effizient. Schon während ich diesen Eintrag schreibe, danke ich innerlich den Entwicklern dieser Systeme mehrfach. Und selbstverständlich ist die Rechtschreibprüfung per Knopfdruck am Ende eine praktische Sache.
Wir berauben uns unserer künstlerischen Aussagekraft.
Aber wie mir scheint, ist der Haken an dieser Entwicklung gewaltig. Die Funktionen werden von Softwaregeneration zu Softwaregeneration vielfältiger, sind mittlerweile unzählbar. Ihr nutzen korreliert dabei oft negativ mit der Anzahl. Adobe, Steinberg, Microsoft und Co aktualisieren im Jahrestakt und das Featurekarussell dreht sich so schnell, dass einem beinahe schwindelig wird. Die Möglichkeiten der digitalen Gestaltung werden also stetig mächtiger und vielfältiger. Ganz abgesehen von der Bedienbarkeit solcher Werkzeuge, sehen sich jedoch selbst erfahrenste Künstler dadurch schnell mit einem neuen Problem konfrontiert: Wahl. Barry Schwartz beschreibt dies in seinem Buch “The Paradox of Choice” und auch in folgendem Video sehr eingehend:
In unserer Software häufen sich Funktionen und Plugins, die uns alle Möglichkeiten der Welt geben. Und direkt daneben steht die geschätzte “Undo”-Funktion, die jeden Fehltritt vergessen lässt. Nicht zu vergessen die Möglichkeiten, Projekte in verschiedensten Stadien und Varianten zu speichern.
Die Arbeit mit solchen Werkzeugen erfordert eine gewaltige Disziplin, möchte der Künstler seine Arbeit auch einmal abschließen. Welcher Effekt soll es denn nun sein? Schlagschatten oder Farbüberlagerung – oder doch gleich beides? Die Entscheidung fällt vielen immer schwerer. Schlimmer noch: Eine endgültige Entscheidung ist nicht mehr nötig, da ich jederzeit zurückgehen und mein Werk überarbeiten kann. Die Festplatten dieser Welt sind randvoll gefüllt mit unvollendeten Projekten, oftmals in den besagten, verschiedenen Stadien, worauf Dateinamen wie “sonnenaufgang.psd”, “sonnenaufgang2.psd” und “sonnenaufgang_neu.psd” schließen lassen.
Wo im Professionellen Bereich noch der Auftraggeber auf ein Ergebnis drängt und dadurch eine Entscheidung erzwingt, ist im Hobbybereich der Künstler scheinbar verloren. Seine Werke werden nie fertig. Wo Ölgemälde noch getrocknet sind und Musikprojekte spätestens durch Neu-Einstellung des Mischpults abgeschlossen werden mussten, wird heute einfach das unfertige Werk gespeichert, vor den zu treffenden Entscheidungen so geflüchtet und etwas Neues angefangen.
Der Künstler betrügt sich um seinen eigenen Fortschritt: Sein Werk wird nicht abgeschlossen, seine Entscheidungen nicht getroffen. Er kann nicht auf seine abgeschlossenen Projekte verweisen, nicht auf die zurückblicken und –viel schlimmer– folglich seine eigene Weiterentwicklung seit dieser Arbeit nicht messen.
Ich denke, durch die vermehrte Entscheidungsunfähigkeit und den Mangel zur Bereitschaft, einen Schlussstrich unter ein Kunstwerk zu setzen, berauben wir uns unserer künstlerischen Aussagekraft.
Und: Ist der einzige Ausweg der Schritt zurück zu analogen Werkzeugen?
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